GB / D / F 2014
Regie: Mike Leigh
Darsteller: Timothy Spall, Dorothy Atkinson, Marion Bailey, Paul Jesson, Tom Wlaschina
Filmlänge: 149 Minuten
Er zählt zu den besten, und mittlerweile teuersten Malern der Welt. Als der fleißige Joseph Mallord William Turner anno 1851 mit 76 Jahren starb, hinterließ er mehr als 20.000 Werke. Dramatische Naturszenen, Schiffe und Wasser gehörten zu den Leitmotiven dieses Vorläufers des Impressionismus. Über das private Leben des genialen Künstlers ist wenig bekannt. Doch Mike Leigh hat intensiv recherchiert – und sich für die fehlenden Puzzlestücke die künstlerische Freiheit genommen.
Wie von Turner gemalt sehen die ersten Bilder des Films aus: Eine Windmühle in idyllischer Landschaft, durch die im sanften Sonnenlicht zwei Frauen schreiten. Auch später nähert sich Leigh stilistisch immer wieder seinem Helden an und findet mit Kameramann Dick Pope grandiose Tableaus. Etwa als der Maler ein Segelschiff sieht, das von einem Dampfer gezogen wird, was der Autodidakt wenig später famos auf die Leinwand bringen wird. Erzählt wird von den letzten 25 Jahren des Meisters. Um seine frühere Geliebte und die gemeinsamen beiden Töchtern kümmert sich Turner nicht, selbst die Beerdigung seiner Enkelin versäumt er emotionslos. Umso enger der Kontakt zum Vater, mit dem ihn ein höchst freundschaftliches Verhältnis verbindet. Als er sich auf Motivsuche unter falschem Namen in einer kleinen Pension einmietet, findet der wortkarger Maler, der sich oft nur mit Grunzlauten äußert, in der verwitweten Vermieterin seine späte große Liebe.
"Du besitzt eine unglaubliche Schönheit" wird er der verdutzten Frau einmal sagen, die keineswegs dem gängigen Ideal entspricht. Genau das ist der Kern dieser Biografie: Ein Maler, der in allen Dingen den Zauber des Schönen entdeckt. Dafür ist Turner keine Anstrengung zu groß, um das Meer in seiner ganzen Kraft zu erleben, lässt er sich auf stürmischer See an den Schiffsmasten binden, was ihm prompt eine Lungenentzündung beschert. 100.000 Pfund bietet ihm ein reicher Fabrikant für seine Bilder. Der recht bescheiden lebende Künstler lehnt ab. Er will, dass alle Kunstwerke später der Staat bekommt, auf dass sie dem Volk gratis zur Schau gestellt werden können.
Über zweieinhalb Stunden nimmt sich Leigh und entführt ebenso elegant wie bewegend in das erstaunlich normale Leben eines Ausnahmekünstlers. Zugleich zeichnet, mit leichtem Federstrich ganz nebenbei, ein Sittenbild jener Zeit mit hoher Säuglingssterblichkeit und den Vorboten der industriellen Revolution. Dampfschiffe lösen die Segler ab. Und mit dem Photoapparat lassen sich ganz neue Bilder herstellen, wie der verdutzte Maler begeistert am eigenen Porträt feststellt.
Verkörpert wird dieser kauzige Maestro, der auch schon mal mit Spucke seine Bilder verfeinert, von einem eindrucksvoll aufspielenden Timothy Spall, der diese widerspenstige Figur in all seinen Facetten präsentiert. Komplettiert wird das Bild durch eine auffallend authentische Ausstattung, die bis hin zum letzten Hosenknopf stimmig ausfällt. Last not least sorgt Leighs langjähriger Komponist Gary Yershon für einen höchst ungewöhnlichen Soundtrack, dessen Geigenklänge bisweilen bis zur Schmerzgrenze gehen um danach mit wunderbaren Paukenklängen zu versöhnen.
Für den 71jährigen Regisseur war "Mr. Turner" ein seit Jahren gehegtes Wunschprojekt. Es ist ihm zum Triumph geraten.
Dieter Oßwald
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