Georgien 2020
Regie: Dea Kulumbegashvili
Darsteller*innen: Ia Sukhitashvili, Rati Oneli, Kakha Kintsurashvili, Saba Gogichaishvili
Georgiens Oscar®-Beitrag 2021
Ein Film von einer Wucht, wie man ihn nur selten sieht und wie er eigentlich auf die ganz große Leinwand gehört.
Georgien. Ein Flüstern, ein Gebet aus dem Off: "Sei Gott dankbar, denn er ist der Gütigste." Eine
minutenlange Totale auf den hellen, weißen Innenraum eines schlichten Gebetshauses, das seinen
farblichen Kontrast allein von einem langen, roten Teppich bezieht: Das Priester-Ehepaar begrüßt sehr
persönlich die Gottesdienstbesucher, zwei Kinder müssen für ihre Verfehlungen mit dem Gesicht zur Wand
stehen, Jalousien verdunkeln den Raum, als der Priester mit Hilfe einer Dia-Projektion von Abraham
erzählt. Dessen gehorsame Bereitschaft, seinen Sohn Isaak zu opfern, sei gerade wegen der letztlich
erfahrenen Gnade eine Prüfung gewesen, die seinen Glauben gestärkt habe, doziert der Seelsorger.
Dann fliegt plötzlich ein Molotowcocktail in den Raum, unter den Gläubigen bricht Panik aus. Schließlich
steht das ganze Haus lichterloh in Flammen. In der nächsten Einstellung sieht man das noch nicht, sondern
hört es nur. In Dea Kulumbegashvilis preisgekröntem Film "Beginning" ist das, was sich außerhalb abspielt,präsent, ohne sichtbar zu sein.
Die kleine Gemeinde von Jehovas Zeugen ist in der georgischen Diaspora offensichtlich unerwünscht. Die
korrupte Polizei scheint trotz Videoüberwachungsbeweisen keine Anstrengungen unternehmen zu wollen,
Ermittlungen einzuleiten. Das folgende, ausführliche Gespräch zwischen Yana (Ia Sukhitashvili) und David
(Rati Oreli), die als Ehepaar die Gemeinde leiten, gibt darüber Auskunft.
Während David mit seiner Arbeit nicht zuletzt Karriereziele verfolgt, steckt die ehemalige Schauspielerin
in einer tiefen Identitätskrise: "Das Leben geht weiter, als ob ich gar nicht anwesend wäre." Sie sei sich
fremd geworden, sagt Yana. Sie warte nur noch, dass etwas beginne oder zu Ende gehe. In den folgenden
Tagen, in denen sie mit sich und manchmal zusammen mit ihrem kleinen Sohn Giorgi (Saba Gogichaishvili)
allein ist, hat sie ein einschneidendes Erlebnis. Sie wird Opfer eines sexuellen Verbrechens, das durch
seine Ambivalenz unterschiedliche Beziehungs- und Abhängigkeitsstrukturen offenlegt.
In ihrem minimalistischen, von ebenso eigenwilligen wie konzentrierten Bildkompositionen und einem
starken Formbewusstsein getragenen Spielfilmdebüt, das auf eine visuelle Dramatisierung weitgehend
verzichtet, zielt die georgische Regisseurin gerade auf diese Mehrdeutigkeit. Ihre orientierungslos
gewordene, sich selbst abhandengekommene Heldin erleidet einen Missbrauch, der merkwürdigerweise
gleichermaßen als Selbstopfer, Hingabe oder gar Selbstaufgabe deutbar ist. Schließlich befindet sie sich in
einer so tiefen Depression, dass sie selbst vor der Opferung eines anderen Menschen nicht zurückschreckt,
um sich selbst zu spüren und zugleich zu zerstören.
Mit Blick auf die Kindheit der Protagonistin erzählt Dea Kulumbegashvili auch eine Geschichte der
abwesenden Väter, deren Machtbefugnisse die Gesellschaft durchdringen. Deren Schicksal vollzieht sich
auf der Symbolebene des Films als ihre vollständige körperliche Auflösung in grauem, vertrocknetem Stein.
Dagegen liegt Yana einmal reglos und erstarrt inmitten der Natur. Sie stellt sich tot und ist doch lebendig.
(Wolfgang Nierlin, RNZ, 02.01.2021)
Info: ab sofort abrufbar ist der Film unter www.mubi.com/de/films/beginning-2020
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